Michael Ball

 Was ist Kunst heute, in dieser Epoche extremer Individualisierung und einer Quantenwissenschaft, die auf dem Weg ist, vom letztlich immer noch Berechen- und Messbaren vorzustoßen in geistige Dimensionen? Welche Botschaft kann sie tragen? Ist es jetzt Zeit, dorthin zu gelangen, was Friedrich Wilhelm Schelling vor 200 Jahren in seinen Vorlesungen zur Kunst formulierte, nämlich, dass es nicht genüge, nur dem Geheimnis des Körpers oder dem  Geheimnis der Seele auf der Spur zu sein, sondern weiter zu schreiten bis zu dem magischen Punkt, wo beides zu verschmelzen beginnt und zunehmend „Wesentliches“, wie von den Mystikern immer gefordert, Gestalt gewinnt?
Die Arbeiten von Michael Ball, der menschlichen Figur nahe und doch sehr viel mehr ausdrückende Skulpturen aus Bronze, machen solche Überlegungen denkbar und nachvollziehbar.

Michael Ball hatte sich nach dem Abitur zunächst für die Architektur entschieden, war aber dann doch lieber an die Akademie in München gezogen, um den Schritt zur Bildhauerei tun: Gestalten im Raum ja, aber nicht unbedingt Kubaturenberechnungen und Auseinandersetzungen mit ihm fremden ästhetischen Vorstellungen.
Vor allem dies: Dem Eigenen Raum geben, nicht Vorbildern nacheifern. Diesen Weg fand Michael Ball für sich als Student bei Eduardo Paolozzi.
Von zeichnerischen Fingerübungen aus, unerlässlich nicht nur für den Maler, sondern auch für den Bildhauer, der im Dreidimensionalen schafft, öffnete sich nach einigen Jahren ein anderer Zugang: zur Bildbearbeitung am Computer.
Ein Spiel der Phantasie begann zwischen allen künstlerischen Disziplinen und wird bis heute weiter geführt. Das Zufällige und ein bewusster Schöpfervorganges finden zu einem Dialog.

So auch kann man es in Bezug auf die Arbeit von Michael Ball mit der Bronze formulieren. Um die Menschenfigur, in der sichtbar oder zumindest spürbar enthalten ist, was menschliches Leben in allen seinen Dimensionen von Leibhaftigkeit, Geistigkeit und Spiritualität ausmacht, war es Michael Ball von Anfang an zu tun gewesen.
Es entstanden Kleinplastiken und auch voluminösere Arbeiten, denen er ließ, was der Werk- und Gussprozess ihnen mitgegeben hatte: Kanten, Scharten, Grate. Er wollte nicht kopfmäßig eingreifen, wollte nicht schleifen, patinieren, polieren. Jeder Betrachter sollte mit seiner eigenen Phantasie herauslesen können, was er zu sehen glaubte, auch Elfen, Schutzgötter, Geister, Schimären.
Noch ist die Essenz tief verborgen. Der Künstler spürte es, ließ aber wunderbarerweise der Entwicklung, auch seiner inneren Entwicklung, ihren Gang. Bis plötzlich wie von selbst sich die Formen veränderten. Staunend nahm er es zur Kenntnis, fühlte, dass ein Funke aufgeleuchtet war. Die Essenz war durchgebrochen bis in den Bereich des Sichtbaren.
Michael Ball spürte es, und nicht nur er, auch die Betrachter der Arbeiten. Sie fühlten sich angezogen, mussten lange hinsehen, die Botschaft annehmen, die herüberkam.

Schelling hat auch dazu, zum Entwicklungsweg des Künstlers, eine – seiner Epoche, der beginnenden Romantik, entsprechende - Formulierung gefunden: „Wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Entäußerung ist, so muss der Künstler zuerst sich selbst verleugnen und ins Einzelne hinabsteigen, die Abgeschiedenheit nicht scheuend, noch den Schmerz, ja die Pein der Form“.

Es war eingangs schon gesagt worden: Es geht bei Michael Ball um die menschliche Figur, geht um den Menschen, dessen Wesentliches der aufrechte Gang ist, wie auch um die Bedeutung seines Kopfes, dessen Denkvermögen ihn vom Tier unterscheidet.

Die Erscheinungsform der Arbeiten ist also die vertikale Körperlichkeit, die Bewegung nach oben, die der Materialität des Leibes den Geist hinzufügt. Nur sehr selten verformt sich die Gestalt bei ihm horizontal, kann dann Gebrochenheit haben, vielleicht auch Versunkenheit in eine Gebetssituation.
Völlig in sich ruhend, nur wieder das Wesentliche, der runde Schädel, nichts anderes, ist das Kennzeichen der Köpfe und Büsten. Körper können gänzlich ohne Modulierung der Umrisse bleiben. Details würden stören, wären nicht verträglich mit der minimalistischen Einfachheit. Von einem schmalen Fundament aus mögen sie sich nach oben verbreitern, mögen abschließen mit einer Rundung, wie Tropfen, die nicht nach unten fallen, sondern hinauf streben.
Andere sind Torsi oder auch Doppelfiguren, als Paare zu sehen,  mit einer Höhlung zwischen sich, oder einer Höhlung, die ins Dunkel führt wie der Eingang zu einem Schrein. Darin ist Sehnsucht enthalten nach Geborgenheit, vielleicht auch Heiligkeit.
In anderen Arbeiten zeigt sich die ganze Menschenfigur als Solitär, eingehüllt wie in einen Mantel, der, weil er Schutz ist, gestattet, sich klar zu zeigen. Für diese Arbeiten ist der dafür gewählte Begriff, „Wächter“, in mehrfacher Beziehung total stimmig.

Noch immer verzichtet Michael Ball auf jegliche Patinierung oder andere Nachbearbeitung, und genau dies gibt den Skulpturen, zusätzlich zur äußeren Gestalt, ihre geistige Dimension, die „essentia“ mit, jenem Begriff der Lateiner für das Wesentliche, in dem unser bis ins Althochdeutsche zurückführende Wort für Esse steckt, die Feuerstelle, die die Bronze flüssig werden lässt und sie läutert.
Durch diese, nur aus dem innersten Wesen heraus glühende Form ist Erdigkeit da, Fleischlichkeit, Verletzlichkeit. Geheilte Wunden zeigt diese metallische Haut. Es wird kein Versuch gemacht, Gesichter zu formen.
Sie lassen sich mit den Augen erfahren und mit dem Herzen, aber nicht als Mund, Nase, Augen, sondern als Landschaftsformationen im Kleinen, Täler und Hügelungen, geboren aus Tränen, aus Gelächter, aus Seligkeit und Schmerz.
Kein noch so genau gearbeiteter Porträtkopf mit den Zügen eines bestimmten Menschen kann sich auf so breite Weise ausdrücken, dass jeder Betrachter sich selbst darin wiederfindet.

Der Bildhauer ist an einem Punkt seiner Entwicklung angekommen, der ihm die schöpferische Kraft gibt, in seinen Arbeiten das Allgemeingültige und das Individuelle zu einer Einheit zusammen zu führen. Kunst heute mag man auch so definieren: Überwindung der Dualität.


Ingrid Zimmermann

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